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Kreuzwort am 27. Mai 2022

Zutiefst betroffen

Barmherzigkeit wird in Ansprachen und Predigten immer wieder eingefordert und ist zweifellos eine wichtige Tugend und eine gute Grundhaltung. Denn sie meint ja wörtlich, ein Herz zu haben für diejenigen, die erbarmungswürdig, die zum Erbarmen sind. Das Wort ist eine direkte Nachbildung der lateinischen Vorlage „misericordia“, ein Herz für den Elenden, den Unglücklichen zu haben, für den, dem es miserabel geht. Leider ist der Reichtum der biblischen Entsprechung in der lateinisch-westlichen Tradition etwas verlorengegangen. Denn eigentlich wird in der Bibel ein Wort verwendet, das eine tiefe Gemütsbewegung sehr bildhaft beschreibt, etwas, das aus dem tiefsten Innern des Menschen kommt, noch viel tiefer als das Herz, vielleicht hinter oder unter dem Herzen.

Es gibt ja viele Redewendungen, die mit dem Bauch zu tun haben, wenn etwas auf den Magen schlägt, etwas an die Nieren geht oder etwas über die Leber läuft. Die griechische Entsprechung der Barmherzigkeit ist eine Gemütswallung im Innersten der Eingeweide, ein Aufwühlen aller Empfindungen, eine Erschütterung aller stabil geglaubten Gefühle. Auch ohne ein direktes Objekt und einen rationalen Grund kann dieses Gefühl übermannen und alle Emotionen überspülen. Das ist mehr als ein Stich ins Herz, dem gleich der Verstand folgt, der dann genügend Gründe findet, alles zu relativieren: Vielleicht ist die Situation gar nicht als so ernst zu bewerten, vielleicht könnte jemand anderes doch besser helfen, vielleicht reicht die eigene Kraft und Fähigkeit gar nicht aus, und schon schenkt die Reflexion beruhigende Entschuldigung und Entlastung. Gemeint und gesucht ist aber eine Aufwallung aus solcher Tiefe des Menschseins, wohin die Spitzfindigkeiten der Vernunft nicht reichen, wo aber der Mensch er selber und authentisch ist. Eine Notlage, ein Hilfeschrei, ein Kriegsbericht kann so tief ins Innere treffen, dass echtes, ungesteuertes, unmittelbares Mitfühlen und Mitleiden die einzige Antwort ist. Solche Gefühle zuzulassen, braucht Ehrlichkeit vor sich selbst und Mut, dazu zu stehen. Gewiss ist jedenfalls, wo immer auch die Seele des Menschen zu suchen ist, dort muss sie zu finden sein, da, wo das Innerste sich aufwühlen lässt.

Martinos Petzolt,
griechisch-orthodoxer Erzpriester