Straßenränder und Wiesen, Äcker, Wälder und Flussauen – alles ist so intensiv grün wie nie im Jahreslauf! Der Frühling mit seiner Faszination der ersten zarten Blüten ist vorüber, jetzt strotzt die Natur nur so vor Lebenskraft. In den unterschiedlichsten Grüntönen zeigen sich die Pflanzen, Gräser und Bäume. Jedes einzelne Blatt oder Stengelchen ist ein kleines Kunstwerk, und alle zusammen einfach überwältigend – grün! Jedes Jahr wieder macht dieses Grün meine Augen und mein Herz froh.
So ging es wohl auch früher schon den Menschen, vielleicht noch mehr, nach langen dunklen Wintern ohne elektrisches Licht, importiertes Gemüse und die bunte mediale Welt. Das Grün, das nach Winter und Kälte wie durch ein Wunder wieder sprießt und zeigt, dass die scheinbar tote Erde lebendig ist und immer wieder neu Leben schenkt – das ist wie eine Wunderkraft, eine heilige Kraft, darin spürt man Gott selbst am Werk. Hildegard von Bingen erfindet vor mehr als 900 Jahren dafür den Begriff der „Grünkraft“, auf Lateinisch „Viriditas“. Die Grünkraft ist für sie Gottes „grüner Daumen“, Gottes liebevolle und kraftvolle Zuwendung, die alle Geschöpfe ins Leben ruft und sie jeden Morgen neu am Leben erhält. Grünkraft – das ist Lebensfreude, Motivation, ansteckende Fröhlichkeit, Kampfgeist und körperliche und seelische Gesundheit. Auch das, was heute gern als „Resilienz“ bezeichnet wird, hätte Hildegard wohl Grünkraft genannt: die Fähigkeit, sich wieder zu regenerieren, neue Kraft zu schöpfen, wieder neu anzufangen. Ganz praktische Gesundheitstipps kommen ihr dabei in den Sinn, so empfiehlt sie beispielsweise, eine grüne Wiese anzuschauen, um die Augen zu stärken; das könnte man ja durchaus einmal versuchen...
Letztlich aber hat die „Grünkraft“ ihre Quelle in Gott. Sie ist seine schöpferischer, liebevoller Kraft, die Menschen, Tieren und Pflanzen, der ganzen Natur das Leben schenkt, immer wieder neu. Und so, wie die grüne Natur im Mai sozusagen ihren Sieg über den Winter laut hinaustrompetet, ist sie auch ein Zeichen dafür, dass diese Lebenskraft von Gott stärker ist als der Tod. Die Grünkraft ist deshalb für mich auch eine österliche Kraft. „Jetzt grünet, was nur grünen kann, die Bäum' zu blühen fangen an“, schreibt Friedrich Spee in einem Osterlied. Die ganze Natur, ja die ganze Welt ist für ihn fröhlich, weil Jesus auferstanden ist; die Engel singen, und auf der Erde antworten die Menschen, aber auch die Natur, die Vögel und die Bäume mit ihrem neuen Blätterkleid auf ihre Weise: Halleluja, Gott schenkt neues Leben!
Dr. Ursula Silber