Taktvoll macht sie uns darauf aufmerksam, dass wir uns in einem Ruheabteil befinden. Das haben wir bei der Reservierung übersehen. Jetzt erst nehme ich die Stille der anderen Mitreisenden wahr. Manche haben die Augen geschlossen, andere arbeiten mit Kopfhörern am Laptop. Schon im nächsten Abteil finden wir einen Tisch, an dem wir unser Gespräch fortsetzen. Ein Zug mit Ruheraum - eigentlich ein sympathischer Gedanke. Mit 200 km/h unterwegs und trotzdem Zeit für ein Nickerchen oder ungestörtes Arbeiten. Erinnerungen von Schweigen und Stille steigen in mir auf.
1976: Erste Begegnung mit Taizé, einem magischen Ort in Burgund. Die ökumenische Bruderschaft um Frère Roger bietet Gastfreundschaft für Menschen, die auf der Suche sind. Vor den Gebetszeiten stehen Jugendliche am Eingang der Zeltkirche mit Pappschildern. Auf ihnen steht in verschiedenen Sprachen ein Wort: Silence, Stille. Das Schweigen hilft, um wirklich anzukommen und dann einzutauchen in den Gesang, der die Seele berührt und die Menschen vieler Nationalitäten verbindet.
1978: Wüste Sinai. Diese Tage strahlen noch heute. Am Abend sucht sich jeder einen Platz zum Schlafen im hellen Sand. Über mir der Sternenhimmel, um mich herum Stille, wirkliche Stille. Kein Laut ist zu hören. Der Atem der Schöpfung braucht keine Worte. Ich habe viele gescheite Bücher gelesen seitdem, aber wenn ich je einen Zipfel vom Geheimnis Gottes erspürt habe, dann war es in dieser Nacht, im Gefühl von Geborgenheit und dem Wissen: Alles wird gut.
Wieder im Zug. Fahrt am nächsten Morgen nach Aschaffenburg zur Beratungsstelle. Statt gleich Unterlagen auszupacken und mich auf die Menschen und ihre Anliegen vorzubereiten, nehme ich eine kleine Auszeit. Ein paar tiefe Atemzüge und der Blick aus dem Fenster auf den Main zwischen Gemünden und Lohr: Morgennebel, Licht über dem Wasser - kostbare Augenblicke. Ein Gebet steigt in mir auf: "Gott, lass mich heute achtsam sein und den Pausen zwischen den Worten Raum geben. Vielleicht geschieht etwas Heilsames, das den Ratsuchenden gut tut."
Schule am Tag darauf: Stundenwechsel, Unruhe. Normalerweise braucht es zwei, drei Anläufe mit lauter Stimme, dass sich die Schüler konzentrieren. Heute halte ich nur den Zeigefinger vor den Mund. Ich blicke in die Gesichter. Nur ein leises "Pssst". Es wirkt.
Ich warte fünf Sekunden, dann erzähle ich: Von der Begegnung im ICE, vom Nebel über dem Main, von kleinen Unterbrechungen während des Tages.
Der Frau im Zug bin ich dankbar. Sie tippt mir seitdem immer wieder sanft auf die Schultern und schenkt mir Momente der Achtsamkeit und Ruhe.
Liebe Leserinnen und Leser,
Vielleicht mögen Sie es ausprobieren für sich ganz allein: Den Zeigefinger am Mund und ein leises "Pssst". Das kleine Ritual und das kleine Wort öffnen Raum für Wesentliches. "Pssst" - Schlüssel für heilige Zeit.
Burkhard Fecher, Gemünden, Pastoralreferent, Ehe- und Familienseelsorger