Komische Verwirrungen und glückliche Zufälle genauso wie tragische Ereignisse und Missbrauchserfahrungen. Die Liebe ist eine Grenzgängerin.
Liebe überschreitet Grenzen
In vielen Liebesgeschichten überschreiten die Liebenden Grenzen oder durchbrechen Mauern. Zumeist sind es von Menschen erdachte Grenzen und Mauern: die der Volkszugehörigkeit, der sozialen Herkunft, der Hautfarbe und der Sprache, der weltanschaulichen und religiösen Überzeugung. Auch die Grenzen von gesellschaftlichen Normen wie die des Alters werden von der Liebe in Frage gestellt. Unvergesslich der Film „Herold und Maude“, der diese altersübergreifende Liebe mit Witz und Ironie in Szene gesetzt hat.
Die Liebe, die Grenzen überwindet, fühlt sich oft allein gelassen. Sie trifft nicht selten auf Unverständnis, in der Familie und im Freundeskreis. Sie ist gefährdeter und bedarf auch eines zweiten Standbeines.
Liebe achtet Grenzen
Liebe lässt sich nicht erzwingen. Sie ist stets angewiesen auf ein Gegenüber, das einstimmt und mitgeht. So achtet ein Liebender die Grenzen, die der andere vorgibt. Selbst wenn es manchmal schwer fällt.
Es gibt im Alten Testament das Buch vom Hohelied der Liebe, einer Sammlung von alten Liebesgedichten, die der menschlichen Leidenschaft und Sehnsucht nach Liebe eine religiöse Bedeutung zusprechen. Im Garten der Liebe treffen sich Freundin und Freund, um sich aneinander zu erfreuen. Die Geliebte ist selbst auch ein Garten, in den sie den Geliebten einlädt. Der altorientalische Garten war von einer Mauer umgrenzt und bepflanzt mit Bäumen und Sträuchern, gespeist von einer Wasserquelle. Hier ist ein Ort des Lebens und der Freude. Hier gelingt das Spiel von Achten und Überschreiten von Grenzen. Hier entsteht gastfreundlichen Nähe. Grenzen werden nicht gewaltsam durchbrochen. Die Einladung in den Garten der Geliebten wird angenommen. Die Worte der Schöpfungsgeschichte klingen im Raum:
Und siehe, es war sehr gut.
Im Alltag der Liebe und des Lebens verstummt dieses Lob immer wieder. Eine enttäuschte Liebe kann umso leichter in Aggressionen umschlagen, sei es gegen sich selbst oder gegen die Nächsten. Im schlimmsten Fall lesen wir dann von einem Familiendrama in der Presse. Eigene Erfahrungen von Missbrauch oder Gewalt können ein ganzes Leben weitergetragen werden und rufen manchmal neuen Missbrauch hervor. Oder die Liebe geht einfach verloren über die Jahre und wir wollen es nicht wahrhaben.
Das Gute ist, dass wir nicht hilflos ausgeliefert sind. Es gibt viele Möglichkeiten, sich gegen nicht gewollte Grenzüberschreitungen zu wehren. Die Liebe braucht Pflege und Aufmerksamkeit. Als Kirche und in den Gemeinden können wir zu Lernorten werden, die die Sprachlosigkeit in Liebesgeschichten überwinden. Nur ein Beispiel: Mit Kindern und Jugendlichen über gute und schlechte Geheimnisse sprechen. Niemand muss sich schämen über Dinge, die geschehen sind. Die neue Auflage, dass alle ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendarbeit ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorlegen müssen, gibt einen notwendigen Anstoß auf rechtlicher Seite. Dabei sollten wir nicht stehenbleiben. Ein offenes Klima in unseren Gemeinden ist die Voraussetzung, dass wir keine falschen Geheimnisse unterstützen. Jede und jeder darf über seinen Körper bestimmen. Niemand muss sich schämen, wenn ihm oder ihr Zwang angetan wurde. Wir dürfen das Schöpfungslob auf unsere Liebeserfahrungen beziehen und brauchen niemanden wegen seiner sexuellen Orientierung abzuwerten.
Die Liebe hört niemals auf, schreibt Paulus in seinem Hohenlied der Liebe. Und die Liebe ist die Größte, größer als Glaube und Hoffnung. Laden wir sie ein in unser Leben.
Dr. Iris Kreile, Pfarrerin in der Kirchengemeinde St. Paulus in Aschaffenburg